Pogrom in Hammelburg - 10. November 1938

 

 

Der Pogrom in Hammelburg (Stadt und Bezirk) fand am 10. November 1938 statt. Es war ein Donnerstag. Das Pogromgeschehen begann am frühen Morgen zwischen 7.30 Uhr und 8.00 Uhr in der Altstadt Hammelburgs, nachdem keine Schulkinder mehr auf den Straßen unterwegs waren. Um 10 Uhr des Pogromtages lagen sieben „Judenhäuser“ der Altstadt Hammelburgs in tausend Scherben. Fenster, Türen und die Inneneinrichtung waren barbarisch demoliert. Jüdische Frauen irrten mit ihren Kindern durch die Straßen der Stadt. Jüdische Männer wurden in ihren Geschäften niedergeschlagen und am Boden liegend festgehalten bis die Inneneinrichtung des Hauses zerstört war. Folgende jüdische Familien waren am frühen Morgen des Pogromtages vom barbarischen Vorgehen der SA in Hammelburg-Stadt betroffen:

 

 

Adolf und Jenny Stühler - Kissinger Straße 31

Fanny Baumann und Samuel Sichel - Kissinger Straße 8

Julius und Hannah Strauss mit Sohn Benjamin (*10.9.1938) - Kissinger Straße 17

Ella Steinkritzer - Dalbergstraße 57

Simon Adler - Viehmarkt 6

Rosa Stern - Marktplatz 8

Bettina und Julius Mantel - Marktplatz 8

Frieda Neuberger mit den Kindern Lotte, Ernst Stefan und Norbert - Marktplatz 8

Abraham und Amalie Frank - Weihertorstraße 5

 

 

Hauptbefehlsgeber der Novemberpogrome des Jahres 1938 in den Städten und Orten des Gaus Mainfranken, zu dem Hammelburg gehörte, war der extrem antisemitisch und fanatisch rassenideologisch denkende Gauleiter und Regierungspräsident des Gaus Mainfranken Aschaffenburg – Würzburg, Dr. Otto Hellmuth.

Am Abend des  9. November 1938 waren die Gauleiter des deutschen Reichs im Saal des Alten Rathauses in München versammelt, um dort mit Hitler den Kameradschaftsabend zur „Heldengedenkfeier“ zu begehen. Beim Hitlerputsch in München waren am 9. November 1923 Anhänger Hitlers erschossen worden. Dieser Toten gedachten die Nazis alljährlich am 9. November in der sog. „Heldengedenkfeier“.  Der 9. November 1938 war ein Mittwoch.

Gegen 22 Uhr traf im Münchner Alten Rathaus die Nachricht ein, dass der deutsche Diplomat Ernst vom Rath gestorben ist, auf den sechs Tage zuvor der polnische Jude Herschel Grynszpan in Paris ein Attentat verübt hatte. Diese Gewalttat eines einzelnen Juden nahm Göbbels zum Anlass, die Gauleiter reichsweit Pogrome gegen Synagogen, jüdische Häuser, Geschäfte und Einrichtungen anordnen zu lassen.

Die Gauleiter eilten um ca. 22.30 Uhr zum Telefon und erteilten ihren Gauleitungsämtern von München aus den Befehl zum Pogrom. Die Gauleitungsämter ihrerseits riefen ab ca. 23 Uhr die SA-Sturmführer der Städte und Orte ihres Regierungsbezirkes an und gaben telefonisch den SA-Sturmverbänden den Geheimbefehl, pogromartige Ausschreitungen zu organisieren.

Am Abend des 9. November 1938 waren auch in Hammelburg die Gruppierungen der NSDAP zu einer „Heldengedenkfeier“ in der Turnhalle der Kreislandwirtschaftsschule in der Kissinger Straße versammelt: HJ, BdM, NS-Frauenschaft, Amts- und Funktionsträger der lokalen NSDAP, der SA und des NSKK.

Die örtliche „Heldengedenkfeier“ war um ca. 22.30 Uhr beendet.  SA-Sturmführer Hartmann, wohnhaft im Lager Hammelburg, erhielt um ca. 23 Uhr vom Gauleitungsamt  Würzburg den telefonischen Befehl, einen Pogrom in Hammelburg (Stadt und Bezirk) zu organisieren und durchzuführen. Ein schriftlicher Befehl der Gauleitung Würzburg, ein Fernschreiben, lag nicht vor und wurde im Staatsarchiv Würzburg bislang nicht gefunden.

Führende Mitglieder der lokalen SA und des NSKK trafen sich am 9. November 1938 nach 23 Uhr  zu einer Geheimsitzung im SA-Heim in Hammelburg (Kegelbahn am Langen Graben; SA-Heim von 1930 - 1945), um den Pogrom zu planen und vorzubereiten. In diese Planung wurde ein auswärtiger SA-Trupp aus Schweinfurt einbezogen.

Die auswärtigen SA-Männer, die mit einem Lkw am Morgen des 10.11.1938 über die heutige Berliner Straße um kurz nach 7.30 Uhr anfuhren, erhielten den Befehl, in die Judenhäuer blitzschnell hineinstürmen und dort alles kurz und klein zu schlagen. „Für jedes Judenhaus zehn Minuten“, so lautete der Befehl des SA-Sturmführers Hartmann.

Lokale SA-Männer zeigten den auswärtigen Schlägern die noch bewohnten Judenhäuser in Hammelburg, und sie standen Posten vor diesen Häusern, während die auswärtigen Schläger mit Äxten, Beilen und SA-Dolchen in das Haus eindrangen.

Das Hineinstürmen des SA-Schlägertrupps erfolgte  überfallartig in Sekundenschnelle. Die Bewohner in den Häusern hatten keine Chance, Türen zu verriegeln oder den Angriff abzuwehren. Jüdische Männer, die versuchten, die SA-Schläger von ihrem Tun abzuhalten, wurden zu Boden geschlagen und am Boden liegend festgehalten, bis alles in der Wohnung kaputt geschlagen war.

Von den jüdischen Frauen ist überliefert, dass sie die Kinder packten und aus dem Haus rannten: Hannah Strauß mit dem achtwöchigen Baby Benjamin auf dem Arm; Rosa Stern, Bettina Mantel und Frieda Neuberger aus dem "Hause Stern" am Marktplatz 8 mit den Kindern Lotte, Ernst Stefan und Norbert. „Die jüdischen Frauen irrten mit ihren Kindern durch die Straßen der Stadt.“ (Erinnerung der Zeitzeugin Beate Halbritter, Geschäftsfrau vom Viehmarkt).

Um zehn Uhr am 10. November 1938 lagen sieben „Judenhäuser“ der Stadt in tausend Scherben. Der Marktplatz, die Weihertorstraße und die Kissinger Straße waren „weiß“ von Bettfedern, so als hätte es geschneit. Aufgeschlitzte Federbetten und Kopfkissen hingen aus den Fenstern. Marmelade- und Einmachgläser waren darauf entleert worden, Geschirr, Porzellan und Gläser lagen zerbrochen auf der Straße. Unterwäsche der jüdischen Frauen, BHs, Mieder, Unterhosen und Nylonstrümpfe, lagen auf der Straße, beschmutzt mit Marmelade und Eingemachtem.

Um zehn Uhr kamen  zehnjährige Schüler des Progymnasiums Hammelburg vom Sportunterricht aus der Turnhalle der Kreislandwirtschaftsschule zurück in die Altstadt. Sie sahen alles, was geschehen war und was da auf der Straße lag.  

Noch heute können diese damaligen Kinder, die nun 85 und 86 Jahre alt sind, kaum darüber sprechen, was sie am Morgen des 10. November 1938 in der Altstadt gesehen haben. „Diese Bilder des Pogroms gehen uns ein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf“, berichten Augen- und Zeitzeugen von damals.

Einer der Zeitzeugen erinnert sich: „Ein Mitschüler aus unserer Klasse ging nach Hause und umwickelte sich die rechte Hand und Faust mit Mullbinden. Er ging dann von Judenhaus zu Judenhaus und schlug mit seiner Faust die letzten Scherbenreste aus den Fenstern. Er brüstete sich vor den andern Kindern mit seiner Schlägerfaust. Die Mullbinden hatten sich rot gefärbt, während der Junge auf die zersplitterten Fensterscheiben einschlug.“

Wo sich die jüdischen Männer, Frauen und Kinder nach dem Pogrom aufhielten, ob es Nachbarn gab, die ihnen Schutz geboten und sie in ihr Haus aufgenommen haben, ist unbekannt. Überliefert ist, dass um 12.30 Uhr die Verhaftung der jüdischen Männer in ihren zerschlagenen und kaputten Häusern begann. Der NSDAP-Ortsgruppenleiter Köberl ging mit dem Gendarmeriehauptwachtmeister Klarmann in der Stadt umher und nahm die jüdischen Männer fest:

Adolf Stühler; Samuel Sichel; Julius Strauss; Simon Adler, Julius Mantel und Abraham Frank.

Sechs jüdische Männer aus Hammelburg-Stadt wurden am 10. November 1938 um die Mittagszeit ins Hammelburger Gefängnis abgeführt, auch der erblindete 87-jährige Samuel Sichel.  Von Samuel Sichel berichtet eine Zeitzeugin, dass er sich am Tag des Pogroms „koscheres Essen“ ins Gefängnis bringen ließ: Kaffee und Brot.

Gegen die Verhaftung der jüdischen Männer gab es Proteste aus der Bevölkerung. Es herrschte sehr große Betroffenheit in der Bürgerschaft, auch bei Parteimitgliedern. Menschengruppen bildeten sich vor den demolierten Judenhäusern und es gab erregte Diskussionen. Es herrschte die blanke Fassungslosigkeit über die Barbarei der SA und des NSKK. Nachbarn der jüdischen Familien protestierten lauthals gegen die Verhaftung der jüdischen Männer.

Der Ortsgruppenleiter bedrohte die schimpfenden Menschen mit Verhaftung und KZ-Einweisung. Während in Hammelburg-Stadt die jüdischen Männer unter Weisung der zuständigen Haftbehörde, dem Bezirksamt Hammelburg, ins Gefängnis abgeführt wurden,  fuhr der Lkw der SA um 13 Uhr nach Westheim.

Die jüdischen Familien Westheims waren vorgewarnt. Sie wussten, was am Morgen in Hammelburg geschehen war. Sie verriegelten Hof- und Haustore, so gut sie konnten, was ihnen jedoch nicht viel nützte. Ein SA-Mann aus Fuchsstadt zeigte dem SA-Sturm die Judenhäuser Westheims. Die Hoftore und Haustüren wurden mit brachialer Gewalt aufgebrochen. In den Häusern wurde demoliert und gewütet wie zuvor in Hammelburg-Stadt.

Den SA-Männern war es verboten zu plündern. Sie warfen Wertgegenstände aus den Judenhäusern in die Saale, darunter teure Sachs-Fahrräder. Danach wurden auch die jüdischen Männer Westheims verhaftet, auf den Lkw der SA geladen und ins Gefängnis nach Hammelburg gefahren. Während der Lkw  in die Altstadt einfuhr, liefen ältere Mitglieder der HJ neben dem Lkw her, grölten antisemitische Lieder und beschimpften und bespuckten die aufgeladenen Juden Westheims.

Die Gestapo Würzburg war um die Mittagszeit des 10. November 1938 ins Gefängnis nach Hammelburg gekommen und begann im Wohnzimmer der Gefängniswärterfamilie Meyinger (heute Zimmer der kath. Frauenbundes) mit dem Verhör der jüdischen Männer aus Hammelburg und Westheim. In der Zelle hatten diese Zettel und Bleistift erhalten und mussten ihren Lebenslauf aufschreiben. Sie mussten ihr gesamtes Hab und Gut auflisten: Haus, Garten, Wiesen, Weiden, Äcker, Felder, Sparkonten, Stand des laufenden Girokontos und Bargeld. Diese Notizen wurden der Gestapo zum Verhör vorgelegt.

Wer nach dem Verhör unterschrieb, dass er so schnell wie möglich die Schäden am Haus auf eigene Kosten reparieren lässt, seinen gesamten Grundbesitz verkauft und seinen Wohnort binnen weniger Wochen verlässt, der wurde aus der Haft entlassen. Wer dies nicht unterschrieb, der musste im Gefängnis bleiben und wurde ins KZ Dachau eingewiesen.

Während die jüdischen Männer aus Hammelburg und Westheim schon im Gefängnis saßen, führten SA-Männer aus Hammelburg um ca. 15 Uhr den Pogrom in Untererthal durch. Der auswärtige SA-Sturmtrupp war inzwischen nach Schweinfurt zurückgekehrt.  In Untererthal war ältere HJ des Ortes am Pogrom beteiligt, sowohl an der Schändung der Synagoge als auch an der Demolierung der jüdischen Wohnungen. Auch in Untererthal wurden die jüdischen Bewohner verhaftet.  Es waren ganze Familien, die auf den Lkw geladen wurden, Männer und Frauen, egal welchen Alters.   

Um 16 Uhr am 10. November 1938 war das Hammelburger Gefängnis in allen Zellen mehrfach belegt mit jüdischen Männern, Frauen und Kindern aus Hammelburg, Westheim und Untererthal. Die zuständige Haftbehörde, das Bezirksamt Hammelburg, gab an die Gendarmeriestationen des Bezirks Hammelburg die Weisung aus, dass keine weiteren Juden verhaftet werden dürfen, weil das Amtsgerichtsgefängnis überbelegt sei.

Dennoch fuhr der Hammelburger SA-Gründer Adolf Stumpf eigenmächtig, ohne Weisung und Befugnis durch die zuständige Haftbehörde, des Bezirksamtes, um 17 Uhr vom Marktplatz mit dem Lkw wieder hinaus in den Altlandkreis in Orte mit jüdischen Einwohnern. In der Zeit von 18 Uhr – 24 Uhr wurde von Adolf Stumpf und von SA-Männern, die ihm hörig waren, in Dittlofsroda, Völkersleier und Oberthulba der Pogrom durchgeführt.

Jüdische Männer aus diesen Orten, aber auch ganze Familien mit Kindern und Frauen, wurden auf den Lkw der SA aufgeladen und durch die dunkle Nacht ins Gefängnis nach Hammelburg transportiert.  Noch um 24 Uhr wurden fünf jüdische Männer aus Oberthulba von Adolf Stumpf  ins Gefängnis eingeliefert. Die anderen SA-Männer, die den Pogrom seit 7.30 Uhr am Morgen durchgeführt hatten, saßen seit 22 Uhr  im „Deutschen Haus“ in Hammelburg, um die „Judenaktion“ zu feiern und zu betrinken.

 

Am Morgen des 11. November 1938 wurde von der SA Hammelburg die Hammelburger Synagoge geschändet. Die Inneneinrichtung der Synagoge wurde mit Äxten und Beilen zerschlagen. Die Axtschläge waren in der alten Volksschule zu hören, auch in den Zellen des Gefängnisses, wo die meisten Juden noch inhaftiert saßen.

In der Nacht des 11. auf den 12. November 1938 begannen SA-Männer mit der Schändung des Jüdischen Friedhofes Pfaffenhausen. Sie rissen Grabsteine aus der Bodenverankerung und schlugen mit Spitzhacken und Beilen auf die Inschriften ein. 

Am Sonntag, den 13. November 1938, befahlen der NS-Bürgermeister und der NS-Schullehrer von Pfaffenhausen die Schulkinder nach dem Mittagessen auf den jüdischen Friedhof. Mit lauten „Hauruckrufen“ mussten die Kinder die jüdischen Grabsteine umwerfen. Dieses Geschehen mit den Schulkindern Pfaffenhausens wiederholte sich an zwei weiteren Sonntagen des Monats November 1938.

Ende November 1938 lagen über 1000 Grabsteine im Jüdischen Friedhof Pfaffenhausen flach und umgeworfen. Namenstafeln aus Marmor oder Metall wurden abmontiert. Die Inschriftentafeln aus Metall kamen in die NS-Altmetallsammlung.  Die Tafeln wurden zu Rüstungszwecken eingeschmolzen.  Dies ist der Grund, warum noch heute an vielen Grabsteinen des Jüdischen Friedhofes in Pfaffenhausen die Inschriftentafeln fehlen.

 


 

 

Die Täter des Pogroms in Hammelburg, Mitglieder der SA und des NSKK, wurden zu keiner Zeit strafrechtlich belangt und verfolgt, weder 1938 - 1945 noch in der Nachkriegszeit. Die Männer, die den Pogrom in Hammelburg verübt haben, sind und waren namentlich stadtbekannt. Nach Kriegsende wurden Zeugen unter Druck gesetzt, die Namen der Schläger - vor der Spruchkammer Hammelburg - nicht zu nennen. Die einzige Zeugin, die vor der Spruchkammer Namen nannte, war Bettina Adler, die Tochter des jüdischen Metzgers Simon Adler. Bettina war am 23.9.1942 von Würzburg nach Theresienstadt deportiert worden und von dort nach Auschwitz. Bettina Adler überlebte das Vernichtungslager Auschwitz und kehrte im Juni 1945 nach Würzburg zurück. Im März 1948 nannte sie der Spruchkammer Hammelburg die Namen von Pogromschlägern. Fünf Monate später war Bettina Adler tot ( + 25.8.1948).

 

 

 

 

Israelitischer Friedhof Würzburg, Siemensstraße

 

Grab der Betty (Bettina) Adler

geb.  11.8.1904

gest.  25.8.1948

 

 


 

 

Quellen: Gestapo Würzburg, Akten der am Pogromtag verhafteten jüdischen Männer und Frauen; Spruchkammerakten von SA-Männern und Mitgliedern des NSKK; Spruchkammerakten von lokalen Funktions- und Amtsträgern der NSDAP; Zeitzeugen, die am 10. November 1938 zehnjährige Kinder waren und Augenzeugen des Pogroms wurden, Schüler des Progymnasiums und der Volksschule Hammelburg.

 

 

Pogrom in Hammelburg

10. November 1938

 

"Die Judenfamilien, die es rechtzeitig erkannten, verkauften ihren Besitz zu Schleuderpreisen. Einige kamen nicht mehr weg. Am Tag des Pogroms drangen die SA-Männer in die Judenhäuser ein, schlugen alles zusammen, schlitzten die Betten auf und ließen die Stoffballen aus den Textilgeschäften durch die Fenster auf die Straßen aufrollen. Die Judenfrauen mit ihren Kindern flüchteten durch die Straßen. Es war ein schauriger Anblick. Hinterher wollte keiner dabei gewesen sein."

 

 

Beate Halbritter, Zeitzeugin

Hammelburger Album

 

  

 

 

Foto:

Michael Kenna